Bürgermeister zapft, Bürger zahlt

Es kommt nicht oft vor, dass wir hier Deutschlands größtes Boulevardblatt zur Lektüre empfehlen können. Aber aktuell findet sich in der Bild ein spannendes Phänomen. Der Autor M. Deutschmann (das ist ein allgemeines Pseudonym für jeden Bild-Autor, oder?) berichtet aus Röderaue in Sachsen.  Die Gemeinde hat gerade mal 2700 Einwohner, verteilt auf vier Ortsteile. In jedem Ortsteil gibt es eine Kneipe und jede Kneipe wird von der Gemeinde betrieben. Die musste einspringen, weil die Inhaber längst alle aufgegeben haben. In der sächsischen Provinz ist es nicht leicht, profitabel eine Gastronomie zu betreiben.

Der Bürgermeister Lothar Herklotz argumentiert die Querfinanzierung über Steuergelder mit einer „Erweiterte Daseinsvorsorge.“ Mit Blick auf das Phänomen des Kneipensterbens zumindest ein diskutabler Ansatz. Muss die Gemeinschaft zur Kasse gebeten werden, wenn Gastronomie sich nicht alleine über ihre Besucher finanzieren kann? Der Landkreis scheint das nicht so zu sehen: “ Die Rechtsaufsicht des Landkreises Meißen zog die Notbremse und bestimmte: Röderaue muss seine Gaststätten abgeben.“

Warum ausgerechnet Herklotz auf so eine Idee kam, könnte auch biographische Gründe haben: Er ist nämlich seit über 40 Jahren Bürgermeister. Seine politische Sozialisierung erfolgte also noch im DDR-Realsozialismus, der natürlich komplett andere Vorstellungen von Daseinsvorsorge hatte. Sicher braucht es für 2700 Einwohner keine vier Kneipen. Aber das völlige Verschwinden der Gastronomie aus den ländlichen Räumen ist auch nicht schön.

(Bild: CC-BY Brooklyn Botanic Garden)

Bloody Hour statt Happy Hour

Charmante Idee einer israelischen Bar: Frauen bekommen dort während ihrer Periode einen Rabatt von 25 Prozent. Damit wollen die Betreiber nicht nur den besonderen Bedürfnissen nach Schmerzlinderung der betroffenen Frauen entgegen kommen, sondern allgemein das oft tabuisierte Thema mehr in den Mittelpunkt rücken.

Beyond the initial childish embarrassment, cause that how it is with anything connected to the body, we want to speak about this important issue, Barir says. There is no platform for addressing the subject of menstruation and theres no legitimacy in the public sphere for discussing it without people immediately going, Ick, why are you talking about that?

(Bild: CC-BY Derek Gavey)

entspannt trinken, nicht blind.

Mit dem Etikett Genuss wird heute leichtfertig alles versehen, was irgendwie mit Essen und Trinken zu tun hat. Das Genuss aber mehr als nur ein Synonym für Verdaubares ist, sondern auch für eine Geisteshaltung und für Entspannung steht, das wusste August F. Winkler. Deshalb heute die zweite Lese-Empfehlung aus Winklers Feinschmeckerey.

Obwohl Winkler selbst einer der größten Kenner europäischer Weine gewesen ist, hat er sich in einem schönen Text gegen jene Art von Blindproben ausgesprochen, in der gleich einer analytischen Kraftprobe die Teilnehmenden versuchen, sich gegenseitig darin auszustechen, wer welchen Wein besser erkennen kann.

Statt Genuß gibt es Arbeit, weil jeder krampfhaft analysiert. Und Analyse, das weiß nicht nur der Philosoph, frikassiert unbarmherzig den Genuß. Besser ist es, man pfeift aufs sogenannte Renommée, schlückelt heiter seinen Wein und tippt unverzagt und ungeniert immer wieder daneben.

Nachahmenswert besonders Winklers Fazit: „Aber sozusagen ungehemmten Genuß vermittelt auch der beste Wein nur, wenn du ihn entspannt trinkst und nicht jeden Schluck akribisch zerlegst, um herauszufinden, welcher Herkunft und Jahrgang es sein könnte.“ Also, entspannt euch, Weinposer, sonst werdet Ihr dem guten Tropfen doch gar nicht gerecht!

(Foto: CC-BY-ND Hanzell Vineyards)

Die Russen kommen – und sie bringen Pfannkuchen

Ich dachte, Chip.de sei ein Portal für Computer und Technik. Aber wohl nicht nur, denn dort berichtet Inga Methling über die russische Fast-Food-Kette Teremok. Die setzt nicht auf Burger und Fritten, sondern auf traditionelle Snacks, wie Blini und Pelmeni, und ist damit zumindest in Russland ein großer Hit. Über 300 Filialen gibt es und 2013 konnte ein Umsatz in Höhe von 170,2 Mio US-Dollar erwirtschaftet werden – dafür muss man einige Pfannkuchen backen. Jetzt plant der Chef und Gründer Michail Gontscharow auch den Sprung nach Deutschland. Dawaj! Dawaj!

Auf der Karte stehen russische Pfannkuchen (Blini), mit Fleisch gefüllte Teigtaschen (Pelmeni) und als Nachspeise Klöße aus Quarkteig (Syrniki). Der Koch bereitet alles frisch zu – wie bei Oma („Babuschka“) zu Hause. Teremok ist quasi ein modernes Schnellrestaurant mit traditioneller Küche.

Das ist vielleicht nicht nur für Fast Food Fans interessant. Schon 2016 kündigte Lorraine Haist in der Welt an, Moskau mit seiner traditionellen Küche, sei für Foodies das nächste große Ding. Bisher scheint die Prophezeiung noch nicht eingetroffen. Foodies rocken wie Neil Young vielleicht auch lieber in der freien Welt. Aber was Haist über die neue Esskultur rund um traditionelle Delikatessen schreibt, ist trotzdem sehr spannend. Vieles erinnert an die New Nordic Cuisine, nur eben ein paar Längengrade weiter östlich:

Was der 33-Jährige beim Tastingmenü in seinem gerade eröffneten „Lab“, einer Mischung aus hochmoderner Testküche und „Chef’s Table“ auf die Edelstahltheke stellt, ist gleichzeitig ein Crashkurs in russischer Warenkunde: Pferdefleisch, ein Parfait von der Schwanenleber im Marshmallow-Mantel, ein Brötchen aus Birkenrinden-Mehl, serviert mit cremiger Butter aus der Stadt Wologda, in der traditionellen Schwarzbrotlimonade Kwas gegarte Rippchen.

(Bild: CC-BY-SA Alexey Ivanov)

Familienbetrieb und Nordsee-Filiale

Von wegen, alle kleinen Fische werden automatisch von den größeren Fischen geschluckt. Nick Gehlen berichtet in der FAZ vom Frankfurter Restaurant Fisch Franke. Das ist einerseits ein Familienbetrieb mit fast 100-jähriger Geschichte und einem starken Hausherr, der dem Restaurant seine ganz persönlich Note aufdrückt. Andererseits ist es aber auch seit den 70er Jahren eine Nordsee-Filiale, die nur eben ganz anders aussieht, als alle anderen Filialen des Unternehmens. Ein spannendes Beispiel, dass es nicht immer Franchise kontra Familienbetriebe heißen muss, sondern zumindest ab und zu auch eine konstruktive Koexistenz möglich zu sein scheint.

Das Phänomen, dass Familienbetriebe mit nur einer Filiale bei Ketten unterschlüpfen müssen, um am Markt bestehen zu können, kennt auch Kerstin Junghans, die Vorsitzende des Hotel- und Gastronomieverbandes in Frankfurt. Familienbetrieben falle es oft schwer, die hohen Mietkosten zu erwirtschaften. Zudem müssten sie Rücklagen für Investitionen in die Zukunft bilden. Heutzutage sei alle zwei Jahre ein „Update“ des Unternehmens notwendig, so Junghans, um konkurrenzfähig zu bleiben. Häufig zögen daher Franchise-Unternehmen zumindest im Hintergrund die Fäden, so dass meistens zumindest das Marketing an diese Großunternehmen ausgelagert werde.

(Foto: CC-BY Victoria Reay)

Heidegger und totes Fleisch

Okay, das ist jetzt etwas schwierig. Der amerikanische Youtube-Kanal „The School of Life“ erklärt in diesem Video das Denken Heideggers mit einfachen Zutaten und Metaphern aus der Küche. Eigentlich wurde Tatar und Theorie genau für solche Begegnungen zwischen Philosophie und Kulinarik eröffnet. Und das Video schafft es auch, die zentralen Gedanken von Heideggers durchaus einflussreicher Ontologie sehr anschaulich zu erklären. Deshalb teile ich das Video auch gerne mit euch.

Jetzt kommt das Aber: Heidegger war überzeugter Nazi und Antisemit – und dass seine authentizitäts-esoterische Denke antimodern-fragwürdig bis menschenfeindlich-gefährlich ist, konnte man durchaus schon vor der Veröffentlichung der Schwarzen Hefte wissen. Wenn man es denn wollte. Aber das sollte einen ja nicht hindern, sich trotzdem selbst mal rein- und mitzudenken, vielleicht aber immer mit dem Wissen im Hinterkopf, dass Heideggers Lehre und Person nicht ganz unbeteiligt gewesen ist am industriellen Massenmord von über 6 Millionen Juden, aber auch Homosexuellen, Zeugen Jehovas, Sozialisten, Gewerkschaftlern, Pazifisten und allen andren, die der nationalsozialistischen Lehre nicht in den Kram gepasst hatten.

Schluss ist auf jeden Fall mit dem Mythos vom unpolitischen Philosophen, der kurzzeitig der naiven Idee aufsaß, er könne „den Führer führen“, wie Jaspers das einmal formuliert hat – nein Heidegger hielt sich tagespolitisch auf dem Laufenden, das bezeugen die Schwarzen Hefte. Er las Zeitungen, kommentierte das Weltgeschehen. Und über Hitler notierte Heidegger schwärmerisch, dass – Zitat – „der Führer eine neue Wirklichkeit erweckt hat, die unserem Denken die rechte Bahn und Stoßkraft gibt.“

 

Desertiert vorm Dessert

Marcus Werner ist verzweifelt. In seiner Kolumne in der Wirtschaftswoche klagt er sein Leid über schlechte Desserts aus deutschen Küchen. Selbst bei Tim Raue mit zwei Sternen habe er nur einen faden Schokopudding bekommen. Dramaturgisch korrekt geht die Geschichte aber gut aus. Die Rettung kam in Thailand in Form von Birnen-Mandel-Mousse mit wildem Honig.

Das war ein Highlight. Die in Bangkok denken noch nach beim Dessert. Wir Europäer sind schon so satt und träge. Jetzt überholen uns die Asiaten auch noch bei Mousse und Eiscreme.

Was denkt Ihr? Muss man wirklich bis Bangkok fahren, damit Süßigkeiten wieder Spaß machen? Dürfen „wir“ uns gelassen von „den Asiaten“ beim Dessert überholen lassen, oder muss Ernährungsminister Christian Schmidt jetzt schnell einen nationalen Aktionsplan Süßspeisen aufstellen, damit Deutschland bald auch beim Thema Nachtisch wieder international in der ersten Liga mitspielen kann?

(Bild: CC-BY whity)

„Ein wurstologisches Wunder“

August F. Winkler, einer der bekanntesten deutschsprachigen Gastro- und Weinjournalisten ist gestorben. Nicht nur als Würdigung seines Werkes werden hier in nächster Zeit einige seiner Texte empfohlen. Die Lektüre von Winklers Schriften lohnt auch ohne den traurigen Anlass. Er näherte sich seinen Untersuchungsgegenständen nicht nur kenntnisreich, sondern auch aus einem ganz eigenen Blickwinkel, der sich besonders in seiner speziellen Sprache und Wortwahl zeigt. Der Falstaff hat einen großen Nachruf, der besonders Winklers Verdienste um den österreichischen Wein ehrt.

Unser erster Lesetipp aus Winklers digitalem Nachlass führt zu den Schlachtern, ins Reich der Würste, genau genommen: Zur Blutwurst. Nach einem kleinen Exkurs in die Geschichte der roten Köstlichkeit widmet sich Winkler der Frage, warum sie zwischenzeitlich so unpopulär gewesen ist und jetzt ein Revival in der besseren Küche erfährt. Er führt aus, mit welchen Beigaben sie gut schmeckt und lässt jene Metzger zu Wort kommen, welche die „Ehre der Blutwurst“ verteidigen. Ja, bei Winkler hkonnte ein gutes Produkt auch mal eine Ehre haben.

Die archaischste und wohl älteste ihrer Art ist die Blutwurst. Erst unter der Haut offenbart sie ihr von Zartheit und Pikanterie erfülltes Wesen. Sie profitiert nicht vom gierigen Biß ins Pralle; niemandem käme es in den Sinn, in sie hineinbeißen zu wollen – sie will eröffnet werden!

(Foto: CC-BY Erich Ferdinand)

Gekochte Aubergine als Gottesbeweis

Und wir bleiben in Japan. Also zumindest bei der japanischen Küche – und zwar mal wieder mit einer Restaurantkritik. Stevan Paul hat bei Nutriculinary eine Lobeshymne auf das Mittagsmenü im YOSHI by Nagaya in Düsseldorf geschrieben. Dabei prägt er mehrere sehr hübsche Formulierungen wie den „Gottesbeweis auf dem Teller“ als auch den „Julien Walther-Moment“.

Kurz überfällt mich Schwermut, als mir klar wird, dass ich eine japanische Küche dieser Güte zuhause nicht werde finden können, es ist mein kurzer „Julien Walther“- Moment, jenem dauer-grantelnden Privat-Restauranttester gewidmet, den online stets eine bemitleidenswerte Aura von tiefster Unzufriedenheit umweht, weil er ein paarmal zu oft so richtig, richtig, richtig gut essen war – und seitdem, immer wieder untröstlich und vergeblich, jenen Kick sucht. Ich vertreibe die trüben Gedanken, ich bin ja Koch, ich kann lernen!

Da es also einen Ausweg aus dem Schwermut zu geben scheint, seien meinen Leserinnen und Lesern noch möglichst viele Julien-Walther-Momente gewünscht. Während es gestern mit dem Dashi um alte, japanische Küchentraditionen ging, geht es diesmal eher um die japanische Küche der Zukunft. Denn der Koch Yoshizumi Nagaya ist berühmt dafür, die japanische Küche mutig weiterzudenken. Das gefällt nicht nur Paul gut.

(Bild: CC-BY-SA Ian Sommerville)